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Aktuelles

Momentaufnahme, Anfang Oktober 2020

By 14. Oktober 2020Mai 16th, 2023No Comments

Glosse

Ich bin wieder da, in meiner kleinen Oase, wo Menschen entspannt Café trinken, ihre Nase in die Zeitung vertiefen, draußen unter den bunten, verblassten Wimpeln und im Schatten der Bäume sitzen oder drinnen mit Jazzmusik. Wo sie eine einzelne Zigarette kaufen, ein paar Äpfel vom Bauer aus der Region oder einfach einen Smalltalk brauchen. Wo es montags meist Kartoffelsuppe gibt, freitags hauchdünnes, paniertes Schnitzel, wo Kunden mit oder ohne Maske hereinkommen, freundlich nicken, lächeln, einfach nur lächeln, so wie früher. Wer die anderen vor sich selbst beschützen will, trägt die schwarzen, blauen, bunten oder karierten Masken im Gesicht (war das nicht der Zweck der Maßnahme?). Wer keinen Stoff vor der Nase trägt, bekommt auch einen Café, sogar mit Hafermilch, und wird nicht bitterböse angeblöckt und der potenziellen Mordabsicht an seinem Nächsten bezichtigt (oder zumindest an der Großeltern). Hier darf der Bürger mündig sein. Darf Kerzen, Rotwein, Twix oder Wirsing mitnehmen für kleines Geld, oder auch länger verweilen und sich noch den Streuselkuchen mit Kirschen zum Nachtisch erlauben. Hier, in meiner kleinen Oase, im Viertel, wo ich einen Platz in einem Büro angemietet habe, weil es mir an meinem Arbeitsplatz zu anstrengend wird. „Bitte tragen Sie ausnahmslos eine Maske, sobald Sie Ihren persönlichen Arbeitsplatz verlassen. Das gilt auch für sehr kurze Wege, also innerhalb eines Großraumbüros, zu einem zentralen Kopiergerät, in eine Teeküche oder in ein Nachbarzimmer.“ Hier gilt noch die Devise des alten Fritz: Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden. Hier entwickele ich wahrscheinlich keine massive Depression und Angstzustände, wie mein ehemaliger Chorfreund, aufgrund der Quarantäne (nicht wegen des Virus!), oder werde vor ca. 200 Kollegen – jeder zu Hause am Computer – vor meiner Präsentation vom Oberchef heruntergeputzt, weil ich es wage, zusammen mit meiner Kollegin ohne Maske vor dem Bildschirm zu sitzen. Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein. In meiner Oase umarmen sich sogar Zeitgenossen. Ich bezahle meine Suppe, den Cappuccino zum Mitnehmen und gehe zurück ins Büro. Aber morgen komme ich wieder. Denn ich kann nicht mehr ohne meine kleine Oase, sie erinnert mich irgendwie an alte Zeiten. Damals, als noch mehr mündig waren, Zwischenmenschlichkeit ein hohes Gut war, als ich noch keine konkrete Furcht haben musste meinen Job zu verlieren, weil ich nicht die Meinung der Mehrheit vertrete (auch egal, ich kündige sowieso), als einige großartige Idioten, besser Vollpfosten waren und andere echt OK. Als wir uns nicht für Infektionszahlen, sondern für schwer Erkrankte oder nachweisbare Todeszahlen interessierten, als der Verkäufer in einem Bekleidungsladen uns nicht anschrie, weil wir allein in der Umkleide (allein im ganzen Laden) keine Maske trugen, als die Regierung nur die Regierung, und nicht der unanfechtbar Allwissende war, als die Leitmedien noch ihre Arbeit machten, unparteiische, ausgewogene Berichterstattung als vierte Säule der Demokratie. Muss schon sehr lange her sein, vielleicht Januar 2020……

Wir brauchen:
– einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss
– einen Exit-Plan
– eine Strategie für zukünftige Ausnahmesituationen

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