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Aktuelles

Bericht und Videos zur Tagung „Der Griff nach den Grundrechten“

By 30. Oktober 2023No Comments

am 30. September 2023 lud die Initiative 1bis19 zur Tagung „Der Griff nach den Grundrechten“ in Frankfurt ein. Es sprachen und diskutierten miteinander der Rechtsanwalt, Philosoph und Publizist Carlos A. Gebauer, die Politikwissenschaftlerin Prof. Ulrike Guérot, der Wirtschaftsjournalist Dr. Norbert Häring sowie die Historikerin Dr. Sandra Kostner. Am Tag danach fand dann die interne jährliche Mitgliederversammlung statt.

Alle Videomitschnitte der öffentlichen Tagung finden auf dem Youtube-Kanal von 1bis19 in der Playlist

Im Gespräch mit dem Juristen und Richter a.D. Prof. Thomas-Michael Seibert legte Dr. Norbert Häring dar, wie sogenannte „öffentlich-private Partnerschaften“ zu einer Symbiose von Staat und Unternehmen und damit zu einem „Weltregierungssystem der multinationalen Konzerne“ geführt haben. Dabei sei Kapitalismus jedoch nicht gleichzusetzen mit Marktwirtschaft. Außerdem erläuterte Häring, was die Digitalisierung etwa in Form von biometrisch-digitalen Identitäten und digitalen Impfpässen damit zu tun hat. Auch die Vereinten Nationen seien in die Hände von Konzernen und konzernnahen Stiftungen getrieben worden, und Institutionen wie etwa die Weltgesundheitsorganisation seien mittlerweile in hohem Maße abhängig von zweckgebundenen privaten Finanzmitteln. Auf EU-Ebene stehen derzeit digitale Brieftaschen und elektronische Patientenakten in den Startlöchern. Einen Ausweg sieht Häring in Bestrebungen, Macht zu dezentralisieren. Und digitalisierungswütigen Politikern, die letztlich von der Pharma- und IT-Branche gesponsert seien, müsse mehr Gegenwind ins Gesicht blasen.

In ihrem Vortrag regte Prof. Ulrike Guérot das Publikum zum Nachdenken über ein anderes Europa an. Zwar sei bei den europäischen Bürgern ein Grundressentiment gegenüber der EU in ihrer jetzigen Form feststellbar, doch dieses Ressentiment richte sich nicht gegen Europa an sich. Im Gegenteil. Nun stelle sich die Frage: Wer gewinnt die intellektuelle Auseinandersetzung über eine Reform der EU? Guérot spricht sich für eine europäische Republik und eine Demokratisierung Europas aus. Dabei solle ein allgemeiner politischer Gleichheitsgrundsatz für alle europäische Bürger gelten. Voraussetzung dafür seien beispielsweise gleiche soziale Zugangsrechte, ein europäischer Personalausweis oder auch ein europäisches Vereinsrecht. Gute Ansätze sieht sie in der von der EU-Kommission lancierten Bürgerbeteiligung durch Bürgerforen (citizens‘ assemblies). Als Defizit macht sie hingegen etwa die Tatsache aus, dass das EU-Parlament bei der Gesetzgebung über kein Initiativrecht verfügt. In ihren Überlegungen rückt Guérot den Begriff der Republik in den Mittelpunkt, womit jedoch die Sozialstaatlichkeit eng verbunden sei. Allerdings gibt sie zu, dass ihr Nachdenken über ein anderes Europa derzeit noch von „Träumen, Hoffen und Wünschen“ geprägt sei.

Carlos A. Gebauer analysiert in seinem Kurzvortrag die historischen Wurzeln der gegenwärtigen politischen Lage und geht der Frage nach: Warum denken wir in Europa so, wie wir denken? Dabei spannt er einen weiten Bogen von den Vorsokratikern bis hin zum Bundes-Immissionsschutzgesetz. Dessen erster Absatz lautet: „Zweck dieses Gesetzes ist es, Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen.“ Hier zieht Gebauer eine direkte Linie zur neuplatonischen Seinshierarchie vom absolut Guten bis hinab zur Materie und legt dar, wie sehr dieses hierarchische Denken auch heute noch im europäischen Bewusstsein verankert ist und sich beispielsweise im Über-/Unterordnungsverhältnis im öffentlichen Recht widerspiegelt. Außerdem geht Gebauer auf das Phänomen der politischen Mehrheitsbeschaffung ein: Die Suche nach immer größeren Mehrheiten habe etwa von der Nation über die internationale sozialistische Bewegung bis zur aktuellen Klimabewegung geführt. Immer mehr Bedeutung komme auch öffentlich-privaten Partnerschaften zu, durch die der Staat zu einem ökonomischen Player werde. Bei alldem gibt Gebauer jedoch zu bedenken, dass wie in einem Fußballspiel der mächtigste Player neben den Spielern auf dem Feld und neben dem Schiedsrichter immer noch das Publikum – also die Öffentlichkeit – ist.

Dr. Sandra Kostner setzte sich in ihrem Vortrag mit dem weiten Feld der Geopolitik auseinander. In einem historischen Abriss legte sie dar, wie über Jahrhunderte hinweg europäische oder westlich geprägte Mächte die Welt dominiert und um die Vormacht gerungen haben. Mit China trete nun erstmals ein nicht-westlicher globaler Player an, wobei andere bevölkerungsreiche Staaten wie etwa Indien ebenfalls in den Startlöchern stünden. Generell gehe es Großmächten darum, Einflusssphären zu bewahren und keine andere Großmacht im unmittelbar eigenen Einflussbereich zuzulassen. Vor diesem Hintergrund behandelte Kostner Themen wie Konfrontationsdynamiken, Rüstungskontrollverträge, die NATO-Osterweiterung, Demokratie versus Autokratie, den Taiwan-Konflikt sowie besonders auch den Ukraine-Krieg. Bei all diesen Themen wäre es – so Kostner – notwendig, wieder offen debattieren zu können. Stattdessen werde der Preis für abweichende Meinungen derzeit jedoch durch einen immer gleichen Dreisatz stetig in die Höhe getrieben: Personen mit abweichenden Meinungen würden moralisch diskreditiert, sozial ausgegrenzt und möglichst auch noch institutionell bestraft.

In einer abschließenden Podiumsdiskussion kamen die vier Redner der Tagung miteinander ins Gespräch. Dabei wurden zahlreiche Themen angerissen, wie etwa der Digitalisierungswahn, die Forschungssituation an Universitäten, das Canceln von wissenschaftlichen und journalistischen Texten, die problematische Verlagslandschaft, das Verhältnis der EU zu den USA, der Ukraine-Krieg und auch die anstehende Europawahl. Die Diskutanten verbindet eine ähnliche Erfahrung aus den letzten drei Jahren: Zwar erlebten sie, dass Kontakte und Strukturen zerbrachen, doch gleichzeitig entstanden zahlreiche neue Möglichkeiten, Bekanntschaften und Freundschaften. Es müsse einem eben egal sein, wenn man von manchen nicht mehr gemocht werde, befand etwa Carlos A. Gebauer. Die Grundrechte und die Freiheit könne man am besten dadurch verteidigen, dass man sie wahrnimmt und seine Meinung offen ausspricht. Dazu wäre allerdings besonders in den Bildungseinrichtungen mehr Erziehung zum Mut statt der ausgeprägten Verwertungslogik von prüfungsrelevanten Inhalten wünschenswert. Es bestehe aber nach wie vor Grund zur Hoffnung: Schließlich könne jede Diskussion und Debatte, die offen geführt wird, Impulse setzen, um die Welt zu verändern. 

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